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Die Rettung Moses – Erzählung

 

Es wird erzählt:

Einst, vor langer Zeit sind Jakob und seine Söhne mit ihren Frauen und ihren Söhnen und Töchtern aus dem Land Kanaan nach Ägypten gekommen. Als ihre Söhne und Töchter alt genug gewesen sind, haben sie geheiratet und haben selber Söhne und Töchter gehabt. Und ihre Söhne und Töchter haben wieder Söhne und Töchter gehabt. Und so ist das immer weiter gegangen. Aus den Nachkommen Jakobs ist ein Volk geworden – das Volk Israel.

Jakob und seine Familie sind damals wegen Jakobs Sohn Josef nach Ägypten gekommen. Josef ist der Stellvertreter und Freund des Königs von Ägypten, des Pharao, gewesen. Josef hat die Träume des Pharao gedeutet. Er hat dem Pharao vorausgesagt, dass sieben Jahre kommen, in denen man in Ägypten so viel Korn erntet wie nie zuvor. Danach aber kommen sieben Hungerjahre, und es gibt eine Hungersnot, wie es noch nie eine gegeben hat. Und genau so wie Josef es dem Pharao vorausgesagt hat, ist es gekommen. Auch hat Josef dafür gesorgt, dass das Korn der sieben guten Jahre gespei­chert wird. So hat Josef das Land Ägypten vor dem Hungertod gerettet. Weil auch im Land Kanaan eine Hungersnot gewesen ist, hat der Pharao Josefs Vater Jakob, seine Söhne, ihre Frauen, Söhne und Töchter eingeladen, nach Ägypten zu kommen. Der Pharao hat ihnen erlaubt, in der Gegend von Go­schen zu wohnen. Der Pharao ist sehr freundlich zu Jakob und seiner Familie gewesen. Und weil es ihnen in Ägypten gut gegangen ist, sind sie dort ge­blieben.

Als die Nachkommen Jakobs schon ein Volk geworden sind, kommt ein anderer Pharao auf den Thron. Der beachtet und anerkennt nicht, was Josef für Ägypten getan hat. Er ist den Israeliten nicht freundlich gesinnt wie der Pharao zur Zeit Josefs. Dieser neue Pharao macht die Israeliten zu Sklaven. Sie müssen für den Pharao aus den Lehmgruben Lehm holen, Ziegel machen und Städte bauen. Und sie müssen auf den Feldern arbeiten. Diese Arbeiten sind sehr mühsam und anstrengend. Und die Israeliten müssen von Sonnen­aufgang bis Sonnenuntergang arbeiten. Sie haben kein gutes Leben mehr. Der Pharao hat ihr Leben hart und bitter gemacht.

Der Pharao denkt oft über das Volk Israel nach. Und dabei kommen ihm immer wieder dieselben Gedanken: Dieses Volk wird immer gösser und da­durch auch immer mächtiger. Dieses Volk ist ein Volk von Fremden. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn dieses Volk einmal wirklich gross und mächtig geworden ist. Wenn es dann Krieg gibt, schliesst sich dieses fremde Volk den Feinden Ägyptens an und kämpft an ihrer Seite gegen Ägypten. Dann ist Ägypten verloren!

Den Pharao schaudert bei diesen Gedanken. Und er denkt: Ich muss Ägypten vor diesem Volk schützen. Ich muss alles tun, um zu verhindern, dass es noch grösser wird! – Aber wie?!

Der Pharao spricht mit niemandem über seine Gedanken und Ängste. Und weil er sie niemandem anvertraut, werden seine Ängste immer grösser und bedrohlicher! Sie beherrschen ihn immer mehr. Er kann kaum noch an etwas anderes denken. Wenn er am Morgen erwacht, ist sein erster Gedanke, dass das Volk Israel zu gross und zu mächtig wird. Abends vor dem Einschlafen ist es sein letzter Gedanke. Und manchmal schreckt der Pharao mitten in der Nacht auf, weil er von einem Krieg geträumt hat.

Als er wieder einmal von einem solchen Traum erwacht, kann der Pharao nicht mehr einschlafen. Und als er hellwach im Bett liegt, da weiss er plötz­lich, was er tun muss. Laut sagt der Pharao zu sich selbst: „Wenn es Krieg gibt, sind nur die Männer gefährlich. Die Frauen führen keine Kriege. Ich muss einfach dafür sorgen, dass es im Volk Israel in Zukunft keine neuen Männer mehr gibt!“

Am anderen Morgen lässt der Pharao seine Schreiber in den Thronsaal kommen. Als sie versammelt sind, sagt er:

„Schreibt: So hat der Pharao gesagt, und solches hat er seinem ganzen Volk, den Ägyptern, befohlen: Geht zu den Israeliten und sucht alle neuge­borenen Knaben! Nehmt sie, und ertränkt sie! Werft sie in den grossen Strom, den Nil! Alle neugeborenen Mädchen aber lasst am Leben!“

Die Schreiber machen grosse Augen, als sie das hören, und einige er­schrecken. Aber sie schweigen. Keiner wagt, etwas zu sagen, weil sie alle um ihr Leben fürchten. Sie gehorchen dem Pharao und schreiben alles genau so auf, wie er es ihnen sagt.

Als die Schreiber fertig sind, schickt der Pharao seinen Befehl durch Bo­ten in jede Stadt und jedes Dorf. Dort wird er öffentlich verlesen, dass jeder Ägypter und jede Ägypterin hört, was der Pharao befohlen hat.

 

Jochebed hält sich die Ohren zu. Sie kann die gellenden Schreie und das verzweifelte Schluchzen aus dem Nachbarhaus nicht mehr mit anhören! Ei­nige Stunden zuvor sind ein paar Ägypter ins Nachbarhaus gekommen. Sie haben die Tür eingetreten und haben der Nachbarin ihren kleinen Sohn aus den Armen gerissen, der vor ein paar Tagen geboren worden ist. Ob die Ägypter zufällig vorbeigekommen sind und den Knaben weinen gehört ha­ben, oder ob jemand die Nachbarn verraten hat, weiss Jochebed nicht.

Jochebed schaut auf ihren grossen, runden Bauch. Sie ist schwanger. Und schon bald gebärt sie einen Sohn oder eine Tochter. Jochebed hat sich auf die Geburt gefreut – bis zu dem Tag, an dem sie vom schrecklichen Befehl des Pharao gehört hat! Ganz leise und aus tiefstem Herzen sagt Jochebed: „Oh Gott, bitte lass mich eine Tochter gebären, dass sie am Leben bleibt!“

Aber Jochebeds Gebet wird nicht erhört. Sie gebärt einen Sohn. Bei der Geburt ist niemand bei Jochebed ausser Mirjam, Jochebeds Tochter. Sie ist schon eine junge Frau und steht ihrer Mutter bei der Geburt bei. Mirjam nimmt ihren winzigen Bruder auf die Arme und schaut ihn lange und ganz andächtig an. Schliesslich sagt sie:

„Der ist aber wirklich schön!“

Jochebed vergisst für einen Moment alle Angst und alle Sorgen. Ganz glücklich sagt sie:

„Ja, du hast recht! Dein Bruder ist wirklich ein schöner Knabe!“

Aber schon bald kehren die Angst und die Sorgen zurück.

Die Häuser, die die Menschen damals haben, haben offene Fensteröff­nungen. Durch diese hört man jedes laute Geräusch auf der Strasse. Jochebed hat darum Angst, dass man das Weinen ihres kleinen Sohnes auf der Strasse hört. Sie tut darum alles, dass er nicht schreit. Wenn er zu weinen beginnt, stillt sie ihn, wiegt ihn in den Armen, oder sie spricht leise und be­ruhigend mit ihm. Mirjam ist ihr dabei eine grosse Hilfe. Meist können Jochebed und Mirjam den Knaben beruhigen. Manchmal aber nützen alle Bemühungen nichts, und der Knabe schreit so laut, dass man es auf der Strasse hören muss. In solchen Momenten steht Jochebed und Mirjam vor Angst fast das Herz still. Sie erwarten jeden Augenblick, dass die Ägypter die Tür eintreten und hereinstürmen.

Die Zeit vergeht. Jochebed hält ihren kleinen Sohn nun schon drei Monate lang versteckt. Er schreit immer öfter und lauter. Und es wird immer schwie­riger, ihn zum Schweigen zu bringen. Jochebed wird immer verzweifelter. Sie weiss: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr kleiner Sohn gefunden und getötet wird.

Jochebed hat Geschichten über ausgesetzte kleine Knaben oder Mädchen gehört. Wenn eine Mutter ihren Sohn oder ihre Tochter aussetzt, weil sie ihn oder sie nicht mehr behalten kann, bringt sie ihn oder sie an einen Ort, wo jeden Tag Menschen vorbeikommen. Jochebed kennt einen solchen Ort. Er liegt am Ufer des Nil. Dorthin kommen jeden Morgen und Abend Frauen, um Wasser zu schöpfen. Wenn Jochebed ihren kleinen Sohn an jenem Ort aussetzt, findet ihn ganz sicher jemand.

Knaben, die so klein sind wie ihr Sohn, sind sehr verletzlich. Jochebed denkt lange über die Gefahren nach, die einem solch kleinen Knaben wie ihrem Sohn am Ufer des Nil drohen und über alle Dinge, die ihn verletzen oder sogar töten.

Wenn sie ihren kleinen Sohn in einen offenen Korb legt, ist er der heissen Sonne ausgesetzt, aber auch den vielen Tieren, die es am Ufer des Nil gibt. Um ihn vor der heissen Sonne und den Tieren zu schützen, muss sie ihn in etwas legen, das einen Deckel hat. In Ägypten gibt es längliche, viereckige Behälter mit einem Deckel. Särge, Truhen und Schachteln haben diese Form. Jochebed hat vor, ihren kleinen Sohn in einen solchen länglichen, viereckigen Behälter mit einem Deckel zu legen, der zur Grösse ihres Soh­nes passt. Sie hat vor, einen kleinen Kasten aus geflochtenen Papyrussten­geln zu nehmen.

An jener Stelle am Ufer des Nil besteht der Boden aus nassem Schlamm. Wenn man einen kleinen Kasten aus geflochtenen Papyrusstengeln mit ei­nem kleinen Knaben darin hineinstellt, dringt das Wasser durch das Ge­flecht. In Ägypten gibt es ein Gemisch aus Asphalt und Pech. Dass kein Wasser in den kleinen Kasten dringt, hat Jochebed vor, Boden und Wände mit diesem Gemisch abzudichten.

Jochebed spricht mit ihrer Tochter nicht über ihre Verzweiflung, die je­den Tag grösser wird. Und sie hat schon gar nicht die Kraft und den Mut, ihrer Tochter zu sagen, dass sie fest entschlossen ist, ihren kleinen Bruder am Ufer des Nil auszusetzen.

Nachdem Jochebed einen geeigneten kleinen Kasten aus geflochtenen Pa­pyrusstengeln und einen Krug mit dem Gemisch aus Asphalt und Pech be­sorgt hat, stellt sie den Krug zu Hause ins Feuer. Sie wartet, bis das Gemisch dickflüssig ist und sich gut verstreichen lässt. Dann bestreicht sie mit ihm Boden und Wände des kleinen Kastens.

Mirjam schaut Jochebed erstaunt zu. Sie öffnet den Mund, um ihre Mutter zu fragen, was sie da tut. Aber Jochebed schüttelt den Kopf und schaut Mir­jam mit Augen an, in denen die Verzweiflung steht. Mirjam wagt darum nicht, zu fragen.

In dieser Nacht hält Jochebed ihren kleinen Sohn zum letzten Mal in den Armen. Ihr Herz tut unbeschreiblich weh, aber sie kann nicht weinen!

Es ist noch Nacht, als Jochebed ihren kleinen Sohn zum letzten Mal stillt. Als es dämmert, steht sie ganz leise auf, dass Mirjam sie nicht hört. Dann legt sie ihren kleinen Sohn vorsichtig in den kleinen Kasten und verschliesst ihn. Obwohl es erst dämmert, wagt Jochebed nicht, ihn ausserhalb des Hau­ses in den kleinen Kasten zu legen.

Zum Tragen des kleinen Kastens braucht Jochebed beide Hände. Sie öff­net leise die Tür. Dann hebt sie den kleinen Kasten auf, trägt ihn zur Tür heraus und stellt ihn wieder ab. Dann schliesst sie leise die Tür und hebt den kleinen Kasten mit ihrem Sohn auf. Ohne sich umzuschauen, geht sie mit schnellen Schritten zu jener Stelle am Ufer des Nil, wo sie ihren Sohn aus­setzen will.

Dort schaut sie sich nochmals um. Es ist kein Mensch zu sehen. Jochebed ist erleichtert! Vorsichtig setzt sie den kleinen Kasten ab. Bevor sie ihren kleinen Sohn für immer verlässt, will sie sich von ihm verabschieden. Sie kniet nieder und öffnet den kleinen Kasten zum letzten Mal.

Mit leiser und unendlich trauriger Stimme sagt sie:

„Mein Sohn, ich kann dich nicht mehr länger verstecken. Ich kann nichts mehr für dich tun. Nur Gott allein kann dir noch helfen! Gott soll dich seg­nen, und er soll dich bewachen. Er soll geben, dass dich ein Mensch mit einem guten Herzen findet. Einem Menschen, der sich um dich kümmert und für dich sorgt.“

Jochebed küsst ihren kleinen Sohn zum letzten Mal! Dann verschliesst sie den kleinen Kasten.

Jochebed hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie so elend und leer ge­fühlt! Ihr ist so elend zu Mute, dass sie nicht einmal weinen kann.

Sie steht auf und geht nach Hause.

Jochebed bemerkt nicht, dass ihr jemand gefolgt ist. Es ist Mirjam. Obwohl ihre Mutter sich sehr grosse Mühe gegeben hat, jedes Geräusch zu vermeiden, hat Mirjam alles gesehen und gehört! Als Jochebed das Haus verlassen hat, hat Mirjam noch einen kurzen Augenblick gewartet. Dann ist sie ihrer Mutter vorsichtig nachgeschlichen. Am Ufer des Nil hat sich Mir­jam hinter einem Gebüsch versteckt. Von dort aus hat sie gesehen, wie ihre Mutter ihren kleinen Bruder ausgesetzt hat.

Nun ist Mirjam auch klar, wofür ihre Mutter den kleinen Kasten ge­braucht hat und auch, warum sie so geheimnisvoll getan hat und ihr nichts gesagt hat! Und sie denkt: Meine Mutter hat wohl befürchtet, dass ich ver­suche, sie davon abzuhalten, meinen kleinen Bruder auszusetzen. Sie hat gar nicht so unrecht gehabt. Ich bleibe hier! Ich muss wissen, was mit meinem kleinen Bruder geschieht.

Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Die Sonne steigt immer höher. Da nähert sich eine Gruppe junger Frauen dem Ufer des Nil. Eine davon ist vor­nehm gekleidet. Sie hat goldenen Schmuck mit kostbaren Steinen. Sie ist eine Tochter des Pharao. Ihre Sklavinnen begleiten sie. Die Tochter des Pha­rao kommt, um im Nil zu baden. Ihre Sklavinnen verteilen sich am Ufer und gehen auf und ab, dass ihre Herrin nicht beim Baden gestört wird. Eine der Sklavinnen begleitet sie ins Wasser.

Die Tochter des Pharao will gerade ins Wasser gehen, da sieht sie einen kleinen Kasten. Sie wird neugierig und sagt zu ihrer Skavin, die neben ihr geht:

„Geh, hol den kleinen Kasten, und bringe ihn mir!“

Die Skavin tut, was ihre Herrin ihr befiehlt.

Als Jochebed beschlossen hat, ihren kleinen Sohn in einem kleinen Ka­sten auszusetzen, hat sie nur daran gedacht, dass jemand ihn an Ort und Stelle öffnet. Sie ist gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass irgend jemand, der keine Ahnung hat, dass sich ihr kleiner Sohn darin befindet, den kleinen Kasten herumträgt. Die Tochter des Pharao und ihre Skavin sind beide vollständig ahnungslos.

Die Skavin sieht, dass sie zum Tragen des kleinen Kasten beide Hände braucht. Dass er beim Tragen nicht herunterfällt, muss sie ihn mit beiden Händen quer vor ihrer Brust tragen. Der kleine Kasten steht im Schlamm. Um ihn aufzuheben, muss sie zuerst niederknien und ihre beiden Hände an zwei passenden Stellen darunter schieben. Danach muss sie ihn aufheben und gleichzeitig aufstehen.

Nachdem sie den kleinen Kasten aufgehoben hat, bringt sie ihn ihrer Her­rin. Dass sich ihre Herrin nicht bücken muss, stellt sie den kleinen Kasten nicht vor ihr auf den Boden, sondern bleibt mit ihm vor ihr stehen. Diese nimmt den Deckel ab. Sie schaut hinein und sieht – einen kleinen Knaben!

Der Knabe hat geschlafen. Durch das Aufheben und Herumtragen des kleinen Kastens, in dem er liegt, wird er aufgeweckt. Und in dem Moment, als der Deckel über ihm weggenommen wird und Sonnenlicht auf sein Ge­sicht scheint, wird er ganz wach. Nachdem er ganz wach geworden ist, fühlt der Knabe, dass er Hunger hat. Er beginnt zu weinen. Er weint immer lauter. Der Knabe weint herzzerreissend!

Die Tochter des Pharao hat in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden so herzerweichend weinen gehört.

Ganz sachte hebt die Tochter des Pharao den Knaben aus dem kleinen Kasten. Sie nimmt ihn in ihre Arme, um ihn zu trösten. Ihr ist sofort klar, woher dieser Knabe kommt.

Das laute Weinen lockt die Sklavinnen herbei, die am Ufer des Nil auf und ab gehen. Jetzt stehen sie um die Tochter des Pharao und den Knaben herum. Da sagt die Tochter des Pharao zu ihnen:

„Das ist ganz sicher einer von den Knaben der Israeliten!“

Der Knabe weint noch immer, obwohl die Tochter des Pharao ihn auf ihren Armen wiegt und beruhigend mit ihm spricht. Da hört sie, wie jemand hinter ihr sagt:

„Herrin, soll ich eine israelitische Frau holen, die den Knaben für dich stillt?“

Die Tochter des Pharao dreht sich um, um zu sehen, wer mit ihr spricht. Vor ihr steht eine fremde, junge Frau. Als aller Augen auf den Knaben ge­richtet gewesen sind, der weint, ist Mirjam aus ihrem Versteck gekommen, und hat sich genähert, ohne gesehen zu werden.

Die Tochter des Pharao schaut die fremde junge Frau lange prüfend an. Sie gefällt ihr! Die Tochter des Pharao weiss: Wenn sie der jungen Frau den Auftrag gibt, eine israelitische Frau zu holen, die den Knaben für sie stillt, übernimmt sie, die Tochter des Pharao, die Sorge für ihn. Will sie das?

Die Tochter des Pharao schaut auf den Knaben in ihren Armen. Dann sagt sie:

„Ja, geh!“

Da widerspricht ihr eine der Sklavinnen:

„Das darfst du nicht tun, Herrin! Dein Vater, der Pharao, hat allen Ägyp­tern und Ägypterinnen befohlen, die neugeborenen Knaben der Israeliten zu töten! Da darfst nicht ausgerechnet du, seine Tochter, einen israelitischen Knaben retten!“

Mirjam macht grosse Augen! Sie hat keine Ahnung gehabt, wer die vor­nehme Frau ist!

Die Tochter des Pharao fühlt, wie eine grosse Wut in ihr aufsteigt:

„Schweig! Ich weiss sehr wohl, was ich tue!“

Und zur jungen Frau gewendet, sagt sie:

„Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe! – Geh!“

Mirjam ist von der Güte und dem Mut der jungen Frau tief beeindruckt und ihr von Herzen dankbar.

Dann dreht Mirjam sich um und läuft so schnell sie kann nach Hause zu ihrer Mutter. Schon bei der Tür ruft sie:

„Mutter, stell dir vor, es ist etwas Wunderbares geschehen!“

Dann berichtet sie Jochebed alles, was sie erlebt hat.

Als Jochebed hört, dass ausgerechnet eine Tochter des Pharao ihren klei­nen Sohn gefunden hat, erschrickt sie. Aber Mirjam beruhigt sie:

„Die Tochter des Pharao ist ganz anders als ihr Vater! Sie ist ein guter Mensch!“

Nachdem Mirjam mit ihrem Bericht zu Ende ist und Jochebed gesagt hat, dass die Tochter des Pharao ihr den Auftrag gegeben hat, eine israelitische Frau zu holen, die den Knaben stillen kann, machen sich die Beiden auf den Weg zur Tochter des Pharao.

Diese steht noch an derselben Stelle und hält noch immer den Knaben in den Armen. Die Tochter des Pharao schaut Jochebed lange prüfend an wie zuvor Mirjam. Auch Jochebed gefällt ihr! Sie sagt zu ihr:

„Ich habe vor, diesen Knaben als meinen Sohn anzunehmen! Ich gebe ihn dir so lange in Pflege, bis er keine Muttermilch mehr braucht. Stille ihn für mich, aber ich, ich gebe dir deinen Lohn.“

Am Abend sitzt Jochebed in ihrem Haus. In ihren Armen hält sie ihren kleinen Sohn. Er schläft tief und fest. Alle Anspannung der letzten Monate ist von Jochebed abgefallen, und die Angst ist aus ihrem Herzen weggegan­gen! Sie kann das Wunder, dass ihr kleiner Sohn gerettet ist, noch immer nicht fassen. Jochebed kommen die Tränen. Sie weint vor Freude, vor Dank­barkeit und aus Liebe. Und immer wieder sagt sie leise:

„Gott, ich danke dir von ganzem Herzen! Mein Sohn ist gerettet!“

 

 

Die Zeit vergeht. Als Jochebeds kleiner Sohn fast drei Jahre alt ist, braucht er keine Muttermilch mehr. Sie bringt ihn zur Tochter des Pharao. Die Tochter des Pharao nimmt ihn als ihren Sohn an. Und sie sagt:

„Mein Sohn soll Mose heissen!“

 

 

 

Peter Egger

Was Mose hört und Mirjam sieht

Mosegeschichten für Kinder und Erwachsene neu erzählt und kommentiert

 

© Dr. theol. Peter Egger, VDM